Marianne Boskamp vom Unternehmen Pohl-Boskamp über Missstände in der deutschen Gesetzgebung, die Innovationen auf Basis bewährter Wirkstoffe verhindern.
Sie haben viele Vorteile: Im Vergleich zur Entwicklung neuer Wirkstoffe sind Innovationen mit bewährten Wirkstoffen schneller verfügbar und können zügig gegen neue Krankheiten eingesetzt werden. Doch durch Rabattverträge und Preisstopps macht der Gesetzgeber den Pharmaunternehmen eine wirtschaftliche Einführung solcher Innovationen nahezu unmöglich. Was das für Auswirkungen auf die Patientenversorgung, das Gesundheitssystem und den Wirtschaftsstandort Deutschland hat, erläutert Marianne Boskamp vom traditionsreichen Pharmaunternehmen G. Pohl-Boskamp GmbH & Co. KG im Interview mit dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI).
Marianne Boskamp: Aber ja, gerade die Pandemie hat dafür ein besonders beeindruckendes Beispiel geliefert: In der RECOVERY-Studie wurde gezeigt, dass der altbekannte entzündungshemmende Wirkstoff Dexamethason die Sterblichkeit von schwer an COVID-19 erkrankten Patienten senkt. Professor Karagiannidis, der wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters (DIVI = Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) konnte im Vergleich zwischen der ersten und zweiten Welle der Pandemie zeigen, dass die Zahl der hospitalisierten Patienten, die auf Intensivstation verlegt werden mussten, von 30 Prozent in der ersten auf 14 Prozent in der zweiten Welle halbiert wurde. Der Anteil der mechanisch beatmeten Patienten sank von 19 auf 8 Prozent. Er führt dies auf den systematischen Einsatz von Dexamethason zurück. Angesichts des Verlaufs in der dritten und vierten Welle mag man sich nicht vorstellen, welche Zahlen wir ohne diesen bewährten Wirkstoff gehabt hätten. Der Einsatz von Dexamethason ist inzwischen Teil der Behandlung bei schweren COVID-19-Verläufen.
Marianne Boskamp: Das Beispiel zeigt alle Vorteile der Innovation mit bewährten Wirkstoffen: Im Vergleich zur Entwicklung neuer Wirkstoffe sind sie – da bekannt und Teil von zugelassenen Arzneimitteln – viel schneller verfügbar. Bei Wirksamkeit können sie zügig gegen neue Krankheiten eingesetzt werden, viel schneller als jedes Arzneimittel bzw. dessen Wirkstoff, der neu entwickelt werden muss.
Das Nebenwirkungsspektrum bewährter Wirkstoffe ist bereits gut bekannt. Durch den geringeren Zeit- und Kostenaufwand für Forschung und Entwicklung ist die Bereitstellung neuer Arzneimittel auf Basis bewährter Wirkstoffe nicht nur schneller, sondern auch günstiger möglich als für neue Wirkstoffe. Und ja: Es gibt viele weitere Beispiele. Ein bekanntes Beispiel ist die berühmte Acetylsalicylsäure, der Wirkstoff in Aspirin, der inzwischen in unterschiedlichen Indikationen eingesetzt wird, zum Beispiel zur Regulierung der Blutgerinnung. Angesichts der Vorteile ist es völlig unverständlich, dass der Gesetzgeber durch die Erstattungspolitik die Entwicklung neuer Arzneimittel mit bewährten Wirkstoffen systematisch verhindert.
Marianne Boskamp: Die Forschungsverhinderung bei bewährten Wirkstoffen ist ein „Kollateralschaden“ des sogenannten erweiterten Preismoratoriums. Der Gesetzgeber hat 2010 für die Erstattung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gesetzliche Rabatte verfügt. Damit die Hersteller diese nicht durch Preiserhöhungen umgehen können, wurde gleichzeitig ein Preismoratorium festgesetzt, das die Preise auf dem Stand vom 1. August 2009 einfriert, erst seit 2018 ergänzt um einen Inflationsausgleich. Das erweiterte Preismoratorium dehnt diesen Preisstopp auch auf neue Arzneimittel mit einem bewährten Wirkstoff, den ein Hersteller schon einmal in Verkehr gebracht hat, aus. Wir reden hier meist über Wirkstoffe, deren Preise die durch Festbeträge reguliert sind und seit 1989 systematisch abgesenkt wurden. Nur: Auf diesem Preisniveau lassen sich die Investitionen für die Erschließung neuer Anwendungsgebiete, die auch für die an sich günstigere Forschung mit bewährten Wirkstoffen erforderlich sind, nicht refinanzieren. Denn in jedem Fall muss auch bei einem bewährten Wirkstoff mit klinischen Studien gezeigt werden, dass dieser zum Beispiel auch in einem neuen, bislang nicht zugelassenen Anwendungsgebiet wirksam ist. Klinische Studien kosten Millionen – Investitionen, die unter dem Preismoratorium nicht zu erwirtschaften sind und damit unterbleiben. Zu Lasten der Patienten und der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – denn im Zweifel kann die therapeutische Lücke dann nur durch teurere neue Wirkstoffe geschlossen werden.
Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht hier nicht um eine Positionierung bewährter gegen neue Wirkstoffe. Beide sind als Grundlage neuer Arzneimittel notwendig – sofern sie dem Therapiestandard therapeutisch überlegen sind oder eine Therapielücke schließen.
Marianne Boskamp: Der BPI hat den Lösungsweg schon beschrieben: Für die Entwicklung eines neuen Anwendungsgebietes mit einem bewährten Wirkstoff, sollte das betreffende neue Arzneimittel zeitlich befristet von erweitertem Preismoratorium und Festbetrag freigestellt werden. Und zwar nur dann, wenn vorgegebene Schwellenwerte der Jahrestherapiekosten und des Jahresumsatzes mit diesem Arzneimittel nicht überschritten werden. Damit würde sichergestellt, dass es hier nicht zu Übertreibungen kommen kann.
Damit können Innovationen mit bewährten Wirkstoffen einen Beitrag zur Entlastung der GKV-Beiträge leisten, weil ihre Entwicklung und Einführung günstiger ist, auch wenn die Investitionskosten auch hier meist im zweistelligen Millionenbereich liegen.
Marianne Boskamp: Weil zu diesen Wirkstoffen meist umfangreiche, häufig jahrzehnte- manchmal sogar über ein Jahrhundert währende Anwendungserfahrungen vorliegen. Man kennt das Nebenwirkungsprofil. Und sie können einen Beitrag zur Entlastung der GKV-Beiträge leisten, weil ihre Entwicklung und Einführung günstiger ist, auch wenn die Investitionskosten meist auch für diese Entwicklungen im zweistelligen Millionenbereich liegen.
Marianne Boskamp: Die Frage ist eher, welche Bedeutung könnten sie haben? Denn derzeit werden sie ja systematisch verhindert. Sie könnten einen besonders effizienten Beitrag zur Schließung therapeutischer Lücken oder zur besseren Behandlung der Patienten leisten.
Unter dem standortpolitischen Blickwinkel könnten sie dazu beitragen, die Herstellerlandschaft zu diversifizieren und damit die Produktion in Deutschland zu halten und zu stabilisieren. Denn viele mittelständische Hersteller mussten sich aus der Entwicklung neuer verschreibungspflichtiger Arzneimittel verabschieden: Die Investitionen in neue Wirkstoffe sind so hoch, dass sie mit deren Umsätzen aus eigener Kraft nicht leistbar sind.
Für den pharmazeutischen Mittelstand kommt noch verschärft hinzu, dass die Firmen meist nicht unter die KMU-Definition (KMU = kleine und mittlere Unternehmen) fallen und somit auch keinen Zugang zur direkten Forschungsförderung erhalten.
Da die patentfreien lange zugelassenen Arzneimittel mit diesen Wirkstoffen über Festbeträge und Rabattverträge unter massivem Preisdruck stehen, kommt es hier seit längerem zu einer sukzessiven, Verlagerung – meist nach Asien. Könnten neue Arzneimittel mit bewährten Wirkstoffen entwickelt werden, hätten sie für die Hersteller wieder eine wirtschaftliche Perspektive in Europa – und damit blieben Produktion und Know-how vor Ort.
Wir sind uns sicher, dass in den Köpfen und Schubladen vieler pharmazeutischer Unternehmen in Deutschland großartige Projekte liegen, die einen hohen Nutzen für Patienten stiften würden – aber mit Blick auf diese Rahmenbedingungen nicht angegangen oder fortgeführt werden können. Das ist absurd.
Über Marianne Boskamp:
Die Diplom-Kauffrau Marianne Boskamp leitet gemeinsam mit ihrem Mann, dem Chemiker Dr. Henning Ueck, das in Schleswig-Holstein ansässige Pharma-Unternehmen G. Pohl-Boskamp GmbH & Co. KG. Bereits seit 1835 ist die seit vier Generationen familiengeführte Firma erfolgreich am Markt.
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